19. Juli 2021  |  
Gastbeitrag

Der Innovationstandort Baden-Württemberg braucht Qualifizierung – und steht damit vor einer Reihe von Herausforderungen

Qualifizierung ist für den Industriestandort Baden-Württemberg von hoher Bedeutung (Stichworte: Strukturwandel, Innovationkraft, Fachkräftesicherung) Dazu müssen die Betriebsparteien künftige Anforderungen (Zukunftskompetenzen) an die Beschäftigten in den Blick nehmen, Belegschaften im Wandel transferieren, indem deren Kompetenzen genutzt werden, Führungskräfte als zentrale Übersetzungsstellen fördern und fordern, sowie die systematische Erfassung des Kompetenzzuwachs im Kontext agiler Lernformen klären.

Ein Gastbeitrag von Roman Zitzelsberger und Claudia Dunst

Herausforderung eins: Zukunftskompetenzen (Futur Skills) erkennen und in Personalentwicklung umsetzen

Für eine Qualifizierung, die künftige Qualifikationsbedarfe (u.a. Digitalisierung, E-Mobilität, Soft Skills) im Blick hat, brauchen die Unternehmen im ersten Schritt ein Zukunftsbild ihrer Transformation – welche Produkte und Prozesse müssen oder sollen sich verändern und was bedeutet das für die Kompetenz­anforderungen? Das scheint einleuchtend – ist aber noch längst nicht flächendeckend umgesetzt. Die gewerkschaftliche Praxiserfahrung zeigt: Viele Betriebe haben derzeit noch keine Vorstellung von notwendigen künftigen Kompetenzen (Anforderungsprofilen) bzw. stehen noch ganz am Anfang ihrer eigenen betrieblichen Transformation, also ihrem unternehmerischen Zukunftsbild.

Vor diesem Hintergrund haben IG Metall und Südwestmetall als Sozialpartner, gefördert durch das Wirtschaftsministerium des Landes, die Studie „Future Skills“ für die Industrie in Baden-Württemberg angestoßen, die derzeit erarbeitet wird. Als Anker und Anregung für die Betriebsparteien in Unternehmen, daraus für sich konkrete betriebliche Anforderungen zu reflektieren und dies entsprechend in die strategische Personalentwicklung zu übersetzen.

Das ist immer noch eine hohe Anforderung – insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Deshalb begrüßen wir alle Aktivitäten in Baden-Württemberg und im Bund zur Unterstützung der Unternehmen in diesem personalpolitischen Innovationsprozess. Dazu gehört auch die Aussage im Koalitionsvertrag, aus der Studie „Future Skills“ konkrete (fassbare) „Weiterbildungsbausteine“ abzuleiten. Wir verstehen darunter, dass zukunftstaugliche Kompetenzprofile, als Ergebnis der Studie „Future Skills“ in Aus- und Weiterbildung übersetzt werden.

Herausforderung zwei: Interner Transfer der Belegschaft – Kompetenzen der Beschäftigten im Unternehmen wertschätzen und nutzen

Unabhängig von wissenschaftlich belegten Zukunftskompetenzen sehen wir in Unternehmen bereits Bewegung – und Handlungsbedarf. Im Kontext von Restrukturierung werden Fachkräfte (aller Qualifikationsstufen), über i.d.R. freiwillige Vereinbarungen, abgebaut und im gleichen Zuge qualifizierte Beschäftigte vom Markt in (neu geschaffene) Stellen eingestellt. Oftmals liegt das daran, dass Unternehmen nicht (an)erkennen, was es an Kompetenzen an Bord gibt bzw. die Entwicklungsbereitschaft und -möglichkeiten der Beschäftigten nicht in den Blick nehmen. Damit entstehen auf Dauer einige Baustellen: Fachkräfteengpässe, ein negatives Image, wenn die soziale Verantwortung für Beschäftigte fehlt und eine sinkende Personalbindung, wenn die planbare und positive Zukunft fehlt. Michael Brecht (Gesamtbetriebsratsvorsitzender Daimler) dazu: „Er könne sich vorstellen, dass der Arbeitgeber offene Stellen zwingend transparent macht und Beschäftigten anbietet, sich auf solche Vakanzen zu qualifizieren, bevor er neue Kräfte von außerhalb einstellt. Ein solches Element würde auch mehr Flexibilität aufseiten der Belegschaft bewirken.“[1] Es gibt zudem bereits beispielhafte Ansätze bei Audi, Daimler oder auch Magna, wo die Kompetenzen der Beschäftigten (z.B. IT-Kompetenz) sichtbar gemacht und entsprechende Qualifizierungen in andere oder neue Arbeitsbereiche organisiert worden sind.

Herausforderung drei: Führungskräfte als zentrale Übersetzungsstellen für Qualifizierung fördern und fordern

Qualifizierung in der Praxis ist oftmals abhängig vom Verhalten der Führungskräfte. Sie müssen Kompetenzen (s.o.) wie auch Entwicklungsmöglichkeiten kennen, Beschäftigte für Qualifizierung gewinnen, die Leistungskraft ihrer Bereiche sichern und Lernzeiten in kennzahlgetriebenen Unternehmen verteidigen. Damit befinden sie sich in einem starken Spannungsverhältnis. Hier gilt es, Widersprüche zu erkennen und Unterstützung zu organisieren: z.B. Integration von Lernzeiten der Beschäftigten in das Kennzahlensystem, der Ausgleich der Ausfallzeiten von Fachkräften durch Qualifizierung, Transparenz der Qualifizierungsmöglichkeiten. Zeit für Mitarbeitergespräche und insgesamt Spielräume für das Thema Qualifizierung haben. Gleichzeitig muss Qualifizierung der Mitarbeiter*innen ein Teil der Zielvorgaben für die Führungskräfte werden, um eine entsprechende Bedeutung zu haben.

Herausforderung vier: Nachvollziehbare Kompetenznachweise im „informellen Lernen“ stärken

In den vergangenen Jahren sind zunehmend Lernformen und Lernkonzepte entstanden, die arbeitsplatznah und „agil“ gestaltet sind. Egal ob Lernprojekte am Arbeitsplatz, Einarbeitungskonzepte, Lernräume oder der (selbstorganisierte) Zugang zu Lernplattformen etc. Alle diese Lernformen haben den Vorteil, dass sie situationsspezifisch passend (flexibel) gestaltet sind für die praktische Arbeit und meist vergleichsweise kostengünstig eingesetzt werden können. Also einen „schnellen“ Nutzen haben – für Beschäftigte und Unternehmen. Zudem tragen sie das Versprechen in sich, dass Lernen in der Kultur der Unternehmen verankert ist – sofern es klar definierte Zeitfenster im Rahmen der jeweiligen Leistungsvorgaben gibt und nicht in der Freizeit mit eigenen Geräten erbracht wird.

Der Nachteil ist, dass diese Lernformen heute an vielen Stellen wenig dokumentiert sind. Die Herausforderung dabei: Wie können viele kleinere Lernbausteine in eine „Kompetenz“ gefasst werden, die wiederum für alle, die sie lesen, nachvollziehbar ist? Dokumentierte Kompetenzen müssen dann übersetzbar sein in Anforderungsprofile. Hier gilt es in Zukunft verstärkt darauf zu achten, dass Kompetenznachweise im Kontext des stärker werdenden informellen Lernens verankert werden. Erst dann wird damit echte Personalentwicklung im Kontext von flexiblen Lernformaten ermöglicht.

Herausforderung fünf: Innovative „Weiterbildungsbausteine“ weiterentwickeln

Für künftige Anforderungen braucht es entsprechende Qualifizierungsangebote – die agil weiterentwickelt werden. Also ganz praktisch: Welche IT-Kompetenzen brauche ich für welchen Arbeitsplatz ganz konkret – jetzt und künftig. Und welche Qualifizierung brauche ich, falls ich die Kompetenz nicht habe. Oder umgekehrt: Auf welche Qualifizierungen können Unternehmen zugreifen, wenn sie wissen, welche künftigen Anforderungen sie haben?

Ein positives Beispiel sind die zertifizierten Zusatzqualifikationen in den Ausbildungs­verordnungen der Metall- und Elektroberufe.[2] Dazu gehören sieben optional wählbare Zusatzqualifikationen – hier werden Industrie 4.0 relevante Qualifizierungsschwerpunkte abgebildet. Diese Zusatzqualifikationen sind auch die Standards für die betriebliche Anpassungsqualifizierung der ausgebildeten Fachkräfte. Gemeinsam mit externen Weiterbildungsanbietern können diese Weiterbildungsangebote (Zusatzqualifikationen als Anpassungsqualifizierungen) extern oder intern umgesetzt werden.[3]

Hier wurde ordnungspolitisch ein flexibles Instrument für die betriebliche Anpassung der Aus- und Weiterbildung geschaffen. Der Vorteil dabei: Expert*innen der Sozialpartner haben einen Konsens, ein gemeinsames Bild erarbeitet.

Diesen Ansatz gilt es nun – auch jenseits von ordnungspolitischen Verfahren – im Kontext der „Future Skills“ voranzutreiben: Also nachvollziehbaren und anerkannten Kompetenzerwerb zu fördern, indem nicht nur künftige Anforderungen sichtbar gemacht werden, sondern auch praktisch nachvollziehbare Weiterbildung (verknüpft mit informellen Lernformaten und entsprechender Dokumentation) formuliert und realisiert werden.

Es gilt also nicht weniger zu erreichen, wie die Verknüpfung von künftigen fachlichen Anforderungen mit (flexiblen) Lernformaten und solidem nachweisbaren Kompetenzerwerb. Also eine systematische Personalentwicklung. Dafür haben proaktive Betriebsräte, Personalbereiche und Führungskräfte eine gemeinsame Rolle. Damit die zukunftsfähige Qualifizierung der Beschäftigten für die Innovationsfähigkeit und die Fachkräftesicherung gesichert wird.

[1] Vgl. Stuttgarter Zeitung 9. Juli 2021
[2] Das veränderte Berufsbild der Industriekaufleute ist natürlich ebenso in den Blick zu nehmen. Wie auch duale Studiengänge oder Zusatzqualifikationen im kaufmännischen Bereich.
[3] Die Agentur für Arbeit in Heidelberg setzt beispielsweise die Zusatzqualifikation “Additive Fertigung“ als überbetriebliche Fortbildungsangebot zusammen mit dem Berufsfortbildungswerk Gemeinnützige Bildungseinrichtung des DGB GmbH (bfw) derzeit um. Ebenso gibt es einen Maschinenbauer, der diese Qualifikationen für Ausgelernte einkaufen will.

Roman Zitzelsberger, Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg und Claudia Dunst, Gewerkschaftssekretärin im Transformationsteam der IG-Metall Bezirksleitung