21. Dezember 2021  |  
Dr. Stefan Baron

Die Weiterbildungsschere wieder schließen – Niemanden vergessen

Ein aufregendes Jahr ist viel zu schnell vorbei gegangen. Es war doch gerade eben erst Weihnachten. Viel haben wir erlebt und angepackt. So haben wir  20 Jahre TV Quali gefeiert und hierzu ein spannendes Buch veröffentlicht. Die Future Skills-Studie wurde erstellt und hat viel Resonanz erhalten. Gemeinsam mit Partnerunternehmen und vielen hilfreichen “Geistern” haben wir den AiKomPass um Digitalkompetenzen erweitert, am DigiREADY weitergearbeitet und das QualiPROFIL als neues Online-Tool vorgestellt. In Webinaren wurden spannende Themen erörtert und natürlich standen wir Unternehmen und Betriebsräten mit Rat und Tat zur Seite. Kein Wunder also, dass das Jahr so schnell vorüber gegangen ist.  Als Team der AgenturQ können wir stolz sein auf das, was wir geleistet haben. 

Es scheint, als ob das Thema Berufliche Weiterbildung im Jahr 2021 eine neue politische Relevanz erhalten hat. Diesen Eindruck konnten Unternehmensvertreter und Betriebsräte im Round Table Gespräch mit Ministerpräsident Kretschmann gewinnen, zu dem die AgenturQ eingeladen hatte. Auch die neuen Koalitionsverträge auf Landes- und Bundesebene räumen dem Thema eine gewisse Priorität ein. Ebenso wird auf Seite der Unternehmen und Betriebsräte die Wichtigkeit der Weiterqualifizierung betont, gleichwohl es fast immer entweder an Zeit oder Geld mangelt. Dennoch: Eigentlich waren die Voraussetzungen für eine Stärkung der beruflichen Weiterbildung in diesem Jahr nie besser, auch weil eine Förderung der Weiterbildung während Kurzarbeit ermöglicht wurde und die Bundesregierung das Aufstiegs-BAföG novellieren möchte. Und natürlich, weil wir aufgrund der Future Skills-Studie nun eine Ahnung davon haben, welche zusätzlichen Fähigkeiten die Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie in den nächsten fünf Jahren aufbauen müssen.

Doch jetzt kommt das große Aber: Wir stecken im zweiten Corona-Jahr fest und warten auf die fünfte Welle nach Weihnachten. Auch wenn in der beruflichen Weiterbildung viel geleistet wurde, besteht die Befürchtung, dass es vielen Beschäftigten ähnlich geht wie Schulkindern: Mangels passender Weiterbildungsangebote könnten sie zurückfallen und nach der Corona-Krise mit größeren Kompetenzdefiziten belastet sein als zu Beginn der Pandemie.

Im IAB-Forum, dem Magazin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, haben die Nürnberger Forscherinnen und Forscher am 10. Dezember darauf hingewiesen, dass im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr in Deutschland die Anzahl der Unternehmen, die betriebliche Weiterbildung anboten, um fast 40 Prozent zurückgegangen ist. Die Weiterbildungsbeteiligung der Beschäftigten nahm sogar um nahezu 60 Prozent ab. Der Rückgang in den großen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg wird nicht so groß gewesen sein. Aber auch hier musste gespart werden und entsprechend wurden vielerorts die betrieblichen Weiterbildungsaktivitäten auf absolut notwendige Maßnahmen beschränkt. Dabei hat die Bundesagentur für Arbeit gegengesteuert. Doch die Förderungen nach dem sogenannten Qualifizierungschancengesetz wurden nicht in dem Umfang abgerufen wurden, wie ursprünglich erhofft. Dies gilt auch für die berufliche Weiterbildung während Kurzarbeit. 

Im Ergebnis nahmen im Jahr 2020 nur 6 Prozent der Beschäftigten mit einfachen Tätigkeiten an betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen teil. Im Jahr zuvor waren es noch 22 %. Auch die Teilnahmequoten der Beschäftigten mit qualifizierten Tätigkeiten reduzierte sich von 45 auf 20 Prozent. Doch die Weiterbildungsschere zwischen den Gruppen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen ging ein Stück weiter auseinander. Es trifft eine Beschäftigtengruppe, die sich auch in der Vergangenheit seltener an Weiterbildung beteiligt hat und nicht nur deshalb im besonderen Fokus der Personal- und Betriebsratsarbeit stehen sollte. Sie üben häufig Tätigkeiten mit einem hohen Anteil an Routinetätigkeiten aus, die stärker Gefahr laufen, aufgrund der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen zukünftig zu entfallen. Eine in der Arbeit der AgenturQ schon häufiger benutzte Studie des IAB von Anfang des Jahres geht alleine für Baden-Württemberg bis 2030 von einem Wegfall von 283.000 Arbeitsplätzen aus. Der stärkste Rückgang ist demnach im Produzierenden Gewerbe zu erwarten, vor allem im Fahrzeugbau. Zwar entstehen aufgrund neuer Technologien und Produkte auch neue Arbeitsplätze, zudem verzeichnen mittlerweile auch Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie einen zunehmenden Fachkräftemangel. Aber eine Frage stellt sich: Wie kann es angesichts solcher Weiterbildungsquoten gelingen, Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten für neue Arbeitsplätze zu qualifizieren, sie in Beschäftigung zu halten und ihnen die benötigten Future Skills zu vermitteln?

Welche Future Skills dies sind, hat die Studie “Future Skills: Welche Kompetenzen für den Standort Baden-Württemberg heute und in Zukunft erfolgskritisch sind” der AgenturQ deutlich gemacht. Die Autorinnen und Autoren haben 33 Future-Skills-Cluster identifiziert und diese den vier Kategorien Technologische Fähigkeiten, Industriefähigkeiten, Digitale Schlüsselqualifikationen und Überfachliche Fähigkeiten zugeordnet. Die für die Studie befragten Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg haben für die Zeit bis 2026 vor allem einen Bedarf an zusätzlichen überfachlichen Fähigkeiten zurückgemeldet, aber auch an digitalen Schlüsselqualifikationen wie zum Beispiel Grundlegende IT-Fähigkeiten oder technologische Fähigkeiten wie zum Beispiel Data Management.

Das wirkt wie eine große Herausforderung, wenn man sich an die Ergebnisse des Nationalen Bildungspanels (NEPS) aus den Jahren 2015 und 2016 erinnert, demnach beispielsweise die Hälfte der damaligen Fachkräfte mit Hauptschulabschluss nur über geringe bzw. geringste Kompetenzen in der Informations- und Kommunikationstechnologie verfügen. Ähnliche Ergebnisse offenbaren die Daten, wenn man die Kompetenzen in den Bereichen Mathematik und Lesen betrachtet. Es muss befürchtet werden, dass die Bildungsdefizite im Vergleich zu anderen Personengruppen weiter anwachsen, je länger die durch Corona bedingten Einschränkungen andauern. Zum einen weil passende Weiterbildungsangebote fehlen, zum anderen weil den Betroffenen häufig die intrinsische Motivation bzw. das Vertrauen in die eigene Weiterbildungsfähigkeit fehlt. Sie werden in aller Regel die “Kurzarbeit Null” nicht für selbstorganisiertes Lernen nutzen. Auch haben nur wenige Unternehmen zu Beginn von Corona die notwendige Unterstützung angeboten.

Bald dauert die Corona-Pandemie schon zwei Jahre. Zum Vergleich: Die erwähnte Future Skills-Studie nimmt eine Perspektive von fünf Jahren ein. Zeit, die schnell vergeht. Entsprechend muss im neuen Jahr ein besonderer Fokus auf Beschäftigte in einfachen Tätigkeiten mit einem hohen Routineanteil gelegt. Dies sind Un- und Angelernte, aber auch Fachkräfte. Wie kann man sie dabei unterstützen, wieder Anschluss zu finden und die dringend benötigten Future Skills aufzubauen? Wie kann die Weiterbildungsschere wieder geschlossen werden?

Vielleicht mag der Eindruck täuschen. Aber über diese Fragen scheint in der “Weiterbildungs-Community” derzeit kaum diskutiert zu werden. Vielmehr kommen quasi täglich neue E-Learning Angebote auf den Tisch, es werden digitale Lernräume gestaltet oder MOOCamps veranstaltet. Die Liste der neuen digitalen synchronen und asynchronen Lernformen ist lang. Fast 80 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten haben im Jahr 2020 E-Learning angeboten. Aber profitieren von diesen neuen Lernformen alle Beschäftigten in gleichem Maße? Wohl kaum. Im Homeoffice kann ich mir die Zeit wahrscheinlich ganz gut einteilen und so Zeit für eine digitale Weiterbildung schaffen. Auch Twitter, LinkedIn oder Youtube etc. können für das digitale Lernen genutzt werden. Dasselbe gilt mit Abstrichen für den Arbeitsplatz im Büro. Aber die Mehrheit der Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie arbeitet nicht im Büro, erst recht nicht im Homeoffice. Sondern in der Produktion oder in produktionsnahen Bereichen. Sie arbeiten im Akkord, haben während der Arbeitszeit häufig keinen Zugriff auf internetfähige Computer und in vielen Fällen nicht einmal eine dienstliche Mailadresse. Und auch deshalb eine geringe digitale Grundkompetenz. Ihnen bleiben die “klassischen” betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen, wenn sie nicht wegen Corona abgesagt werden müssen. Das ist die betriebliche Realität, die in vielen “Learning Communities” gerne übersehen wird. 

Das soll aber nicht heißen, dass die vielen in den letzten Monaten entwickelten neuen digitalen (und nicht-digitalen) Lernformen nicht in der Arbeitsvorbereitung, der Produktion, in der Instandhaltung oder der Lagerlogistik eingesetzt werden könnten. Neue digitale Lernformen können sogar einen Beitrag leisten, die Weiterbildungsteilnahme zu steigern. Etwa durch das Angebot von “Serious Games” für “Digital Natives”. Auch ältere Beschäftigte sind neuen digitalen Lernformen nicht grundsätzlich verschlossen, nutzen sie im privaten Umfeld doch bereits viele digitale Medien. Aber für eine effektive Nutzung müssen solche neuen Lernformen an die besonderen Herausforderungen der Arbeit im direkten Bereich angepasst werden. Für die AgenturQ steht jedenfalls fest, dass eine unserer Hauptfragen für das neue Arbeitsjahr 2022 folgendermaßen lauten wird: Wie kann die Weiterbildung in der Produktion durch neue Lernformen gestärkt werden? 

Denn wir müssen im neuen Jahr zusehen, dass wieder mehr Beschäftigte an Weiterbildung teilnehmen. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten. Sie haben einiges aufzuholen. Das gelingt aber nicht dadurch, dass wir Weiterbildungen für bestimmte Qualifikationsniveaus konzipieren. Um die Weiterbildungsteilnahme nachhaltig zu erhöhen, müssen wir vielmehr in Zukunft genauer hinschauen. So lernt jede und jeder von uns anders. Die einen am liebsten alleine, die anderen mit vielen zusammen im Seminarraum. In kleinen Lernhappen oder im Zweitagesseminar. Analog mit Buch und Textmarker oder digital am PC. Nur wenn mir die Weiterbildungsform zusagt, nehme ich gerne teil. Zudem darf Weiterbildung nicht als Bedrohung empfunden werden und muss vor allem mit Perspektiven verbunden sein: Warum soll ich mich weiterbilden, wenn sich danach eh nichts ändert?  Wir wissen auch, dass Ältere anders lernen als Jüngere und Frauen anders als Männer. Klar ist auch schon lange, dass wir es schaffen müssen, die Lernselbstwirksamkeit von Weiterbildungsfernen zu erhöhen. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei die direkten Vorgesetzten ein. 

An sich alles nichts neues. Nur wird dieses Wissen oftmals nicht berücksichtigt. Stattdessen werden nicht selten Maßnahmen angeboten, die sich nicht an unterschiedlichen Lern- und auch Lebensbedürfnissen orientieren. Es macht die Sache schwieriger, aber es kann sich langfristig lohnen, genauer hinzuschauen statt pauschal Weiterbildung anzubieten: Welche Tätigkeiten werden sich in den nächsten fünf Jahren verändern? Welche Beschäftigten sind betroffen? Wie alt sind sie? Welchen Bildungsabschluss haben sie? Haben sie einen Migrationshintergrund bzw. Sprachdefizite? Haben sie eine Perspektive im Unternehmen? Haben Sie Familie? Wohnen sie am Ort oder pendeln sie zum Arbeitsplatz?  Betriebsräte werden nun einwenden, dass dies alles personenbezogene und damit sensible Daten sind. Das ist richtig, dennoch können solche Informationen dabei helfen, die richtige Weiterbildungsform anzubieten und so die Wahrscheinlichkeit einer Weiterbildungsteilnahme erhöhen. Beispielsweise kann man Beschäftigten mit Migrationshintergrund und Sprachdefiziten eine Weiterbildung möglicherweise auch in der Heimatsprache anbieten. Beschäftigte mit längeren Wegen zur Arbeit bleiben ungern länger für eine Weiterbildung nach Schichtende. Und im Falle von Beschäftigten mit kleinen Kindern muss die Qualifizierung nicht nur mit dem Beruf sondern auch mit der Familie vereinbar sein.  

All das sind Themen beziehungsweise Fragestellungen, die in einem Qualifizierungsgespräch nach dem TV Quali angesprochen werden sollten. Als Vorgesetze:r sollte man sich Zeit für das Gespräch selbst und die Vorbereitung nehmen. Es reicht nicht, nur gemeinsam in den Katalog des regionalen Weiterbildungsanbieters zu schauen. Vielmehr müssen Perspektiven aufgezeigt werden, ggfs. Vertrauen in die eigene Weiterbildungsfähigkeit aufgebaut, ein Weiterbildungsziel definiert und eine individuell passende Weiterbildungsmaßnahme gefunden werden. Voraussetzungen sind freilich eine Weiterbildungsstrategie auf Seiten des Unternehmens und eine Weiterbildungsbereitschaft auf Seiten der Beschäftigten. 

Und natürlich auch Zeit und Geld. Ohne beides werden wir es nicht schaffen, die Weiterbildungsteilnahme zu erhöhen und die Weiterbildungsschere wieder etwas zu schließen. Wenn die berufliche Weiterbildung nun aber tatsächlich mehr Rückenwind bekommt, sollten wir diesen nutzen und in ein hoffentlich erfolgreiches Jahr 2022 segeln.