29. April 2021  |  
Dr. Stefan Baron

OECD-Bericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland – eine kritische Lektüre

Vergangene Woche hat die OECD ihren Bericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland (Continuing Education and Training in Germany) vorgestellt und dabei die Finger in die Wunde gelegt: Nur etwas mehr als die Hälfte der Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren nimmt innerhalb eines Jahres an beruflicher Weiterbildung teil. Unter den Erwerbstätigen sind es immerhin 60 Prozent. Damit können wir uns nicht zufrieden geben. Zwar liegt Deutschland mit dieser Weiterbildungsquote knapp über dem OECD-Durchschnitt. Österreich, die Niederlande oder die Schweiz, die allesamt über ein vergleichbares Bildungssystem verfügen, weisen jedoch höhere Weiterbildungsquoten auf. Und dies, wo doch der Industriestandort Deutschland vor großen Veränderungen steht. Die OECD-Studie beziffert den Anteil der Arbeitsplätze mit einem hohen Automatisierungspotential mit 18 Prozent, weitere 36 Prozent werden sich in den nächsten 15 Jahr stark verändern. Ähnliche Zahlen haben wir in früheren Blogbeiträgen erwähnt. Umso vernichtender ist das Zeugnis, dass die OECD Deutschland hinsichtlich der starken Bildungssegmentation ausspricht. Gerade Beschäftigte in Berufen mit einem hohen Veränderungs- und Automatisierungsrisiko, aber auch Erwachsene mit geringen Grundkompetenzen, Geringverdiener:innen und Beschäftigte in KMU beteiligen sich unterdurchschnittlich an Weiterbildung. Die Anteile haben sich in den letzten Jahren kaum verändert.

Soweit, so bekannt, werden sachkundige Leser:innen nun denken und gespannt darauf sein, welche Empfehlungen die OECD abgegeben hat, um die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland zu erhöhen. Vermutlich werden sie enttäuscht werden, denn der Länderbericht beinhaltet vor allem Empfehlungen zu Strukturänderungen im Weiterbildungssystem. Doch ein verändertes Weiterbildungssystem erhöht alleine noch nicht die Weiterbildungsbeteiligung der genannten Personengruppen. Zudem werden einige Leser:innen nicht mit allen Empfehlungen d’accord gehen. Insgesamt stellt sich die Frage, welches Ziel die OECD mit ihrem Bericht verfolgt: Die Weiterbildungsbeteiligung zu erhöhen oder die Weiterbildungsstruktur in Deutschland zu verändern.

Weiterbildungsdschungel oder Vielfalt der Angebote?

Werfen wir einen Blick hinein in die Studie. Die zentrale Empfehlung ist, komplexe Strukturen zu vereinfachen und die Unübersichtlichkeit aufgrund von dezentralen und föderalen Strukturen zu reduzieren. Es gilt aus OECD-Sicht einen Rahmen zu etablieren, der Zuständigkeiten, die Organisation, die Anerkennung von Bildungsträgern und die Finanzierung regelt. Zudem braucht es Mindeststandards für Anbieter. Auch Unternehmensvertreter:innen bemängeln regelmäßig den Weiterbildungsdschungel. Und ja, der Weiterbildungsmarkt ist mit der Vielzahl von Angeboten unübersichtlich und macht es selbst Expert:innen schwer, passende Weiterbildungsangebote und Fördermöglichkeiten zu finden.
Aber: Die Vielzahl der dezentralen Angebote ergibt sich vor allem aus der individuellen Nachfrage von Unternehmen und Beschäftigten. Es ist doch gut, wenn individuellen Bedürfnissen mit passgenauen Angeboten begegnet werden kann. Und es ist doch auch gut, wenn die Landesregierung Baden-Württemberg durch eine eigene Weiterbildungsinitiative und entsprechende Förderangebote auf die besonderen Anforderungen im Südwesten eingeht. Baden-Württemberg hat eben eine andere Wirtschaftsstruktur als zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. Nicht alle Probleme können in der Nationalen Weiterbildungsallianz auf Bundesebene geregelt werden. Die Frage ist letztlich auch, ob die beschriebene komplexe Struktur und Unübersichtlichkeit tatsächlich auch in diesem Maße von den Unternehmen und Beschäftigten als ein so großes Problem wahrgenommen wird oder ob man sich am Ende doch auf das Angebot der örtlichen IHK verlässt, die Seminare des regionalen Bildungswerks der Wirtschaft bucht, den Katalog der örtlichen VHS studiert und vor allem den Empfehlungen der Agentur für Arbeit folgt. Dann besteht das Problem der Unübersichtlichkeit vielleicht nur für die Forscher:innen der OECD, die Politik und auch Verbandsvertreter: innen. Letztere möchte ich da gar nicht ausnehmen.

Braucht es einen Rechtsrahmen für einheitliche Regelungen?

Es ist natürlich richtig, dass Doppelstrukturen vermieden werden sollten. Es muss aber hinterfragt werden, ob es hierfür tatsächlich eines Weiterbildungsgesetzes bedarf, dass einen gemeinsamen Rechtsrahmen schafft. Fraglich ist auch, ob es tatsächlich eine nationale Initiative zur Weiterbildungsberatung braucht, die das bestehende Angebot vernetzt und optimiert. Zum einen gibt es in Baden-Württemberg mit dem Netzwerk Fortbildung bereits eine vergleichbare Struktur, zum anderen dürfte es Weiterbildungsteilnehmenden in Konstanz zunächst herzlich egal sein, ob ein vergleichbarer Kurs in Flensburg doch leicht andere Inhalte hat. Es sei denn, er zieht vom Bodensee an die Ostsee. Dann wäre es natürlich gut, bundesweit einheitliche Standards zu haben. Inklusive einheitlicher Curricula und Zertifikaten, die überall in der Republik anerkannt werden. Aber braucht es hierfür gleich einen gemeinsamen Rechtsrahmen? Für formale Fortbildungen gibt es bereits bundeseinheitliche Fortbildungsordnungen. Und das ist auch gut so. Bei non-formalen Weiterbildungen sollte man es aber den Sozialpartnern, den Kammerorganisationen sowie den Weiterbildungsanbietern und ihren Organisationen auf Bundesebene überlassen, selbst für gemeinsame Standards oder gar bundeseinheitliche Regelungen zu sorgen. Letztlich liegt dies ja in ihrem eigenen Interesse. Hier braucht es keine Vorgaben aus der Politik.

Apropos Weiterbildungsgesetz. Braucht es tatsächlich ein deutsches Weiterbildungsgesetz, das einen gemeinsamen Rechtsrahmen sicherstellt? Welche Auswirkungen hätte ein solches Gesetz auf die individuelle Weiterbildungsbeteiligung? Wahrscheinlich keine. Dieser Blogbeitrag ist nicht der Platz für eine Förderalismusdiskussion. Nur so viel: Es hat einen guten Grund, warum manche Regelungen auf Landesebene getroffen werden. Und wichtiger als ein deutsches Weiterbildungsgesetz ist es ohnehin, dass Unternehmen und Beschäftigte wissen, welche Regelungen für sie gelten. Unabhängig von der Frage, ob sich diese im SGB III, im Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, im Landeshochschulgesetz, im Bildungszeitgesetz oder im Berufsbildungsgesetz finden lassen. Statt eines einheitlichen Weiterbildungsgesetzes braucht es daher eine effektive Weiterbildungsberatung und Lotsenführung, wie sie die AgenturQ anbietet. Aber wenn das Gedankenspiel über ein deutsches Weiterbildungsgesetz dazu dienen kann, Regelungslücken in bestehenden Gesetzen zu identifizieren, soll das auch recht sein. 

Finanzierungslücken schließen

Auf alle Fälle gibt es Finanzierungslücken. Und hier gibt die OECD Studie die Richtung vor: Finanzierungslücken müssen geschlossen werden. Viele Personengruppen können bereits von einer Förderung profitieren, die ist jedoch zumeist mit einem beruflichen Aufstieg verbunden. Wenn ich aber bereits einen Diplom- oder Masterstudiengang abgeschlossen habe, schaue ich in die Röhre. Das BaföG deckt das Zweitstudium von Dieselingenieur:innen nicht ab, es gibt keine Zuschüsse zum Lebensunterhalt. Es braucht daher mehr finanzielle Anreize für berufliche Anpassungsfortbildungen, um Beschäftigte, die perspektivisch ihre bisherige Tätigkeit verlieren, für neue Aufgaben zu qualifizieren. Und natürlich ist es immer richtig, eine Erhöhung der Gesamtinvestitionen in Weiterbildung und die mittelfristige Prüfung zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten zu prüfen. Man sollte aber auch prüfen, wie viele Geldmittel bereits im System sind und ob diese auch für die richtigen Weiterbildungsmaßnahmen ausgegeben werden.

Projektitis vermeiden

Der OECD Bericht erhebt den Anspruch, die Nationale Weiterbildungsstrategie fachlich zu begleiten. Und bei aller vorgebrachten Kritik weist er auch auf wichtige Punkte hin: Wir müssen herauskommen aus der “Projektitis”. Die Autor:innen weisen zu Recht darauf hin, dass viele innovative Ansätze nur scheibchenweise im Rahmen von Projekten umgesetzt werden und ein systematischer und übergreifender Ansatz häufig fehlt. Die Ergebnisse der Projekte fließen, wenn überhaupt, nur sehr langsam in das Weiterbildungssystem ein. In dieser Hinsicht sind das Projekt VALIKOM zur Validierung informeller Kompetenzen und die Entwicklung von Teilqualifikationen auf dem Weg zur Externenprüfung eine rühmliche Ausnahme.

Menschen mit geringen Grundkompetenzen erreichen

Abschließend kann man festhalten, dass wir uns alle gemeinsam darüber Gedanken machen müssen, wie man Menschen mit geringen Grundkompetenzen für berufliche Weiterbildung gewinnen kann. Die x-te Kampagne wird dies nicht schaffen. Sie würde vermutlich nur Personen erreichen, die ohnehin offen sind für Weiterbildung. Auch von einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern zur Schaffung kostenloser bzw. kostengünstiger Zugänge zu Lernangeboten, wie aktuell von der OECD vorgeschlagen, würde vor allem diese Personengruppe profitieren. Personen, die arbeitslos sind, keine Aufstiegschancen haben, keinen Nutzen aus Weiterbildung für sich sehen, negative Lernerfahrungen gemacht haben und vor allem nur über eine niedrige Lernselbstwirksamkeit verfügen, erreicht man nicht über Kampagnen und kostenlose Angebote. Das zeigen die vielen Bemühungen in der Vergangenheit. Vielmehr kommt es darauf an, dass Weiterbildung praxisnah und problemorientiert erfolgt, idealerweise im Arbeitskontext und verbunden mit arbeitsplatzbezogenen Beratungs- und Mentoringprogrammen. Da zeigen die Autor:innen in die richtige Richtung. 

Die OECD-Studie kann online in englischer Sprache unter https://read.oecd-ilibrary.org/employment/continuing-education-and-training-in-germany_1f552468-en gelesen werden. Eine Zusammenfassung in deutscher Sprache steht unter https://read.oecd-ilibrary.org/employment/continuing-education-and-training-in-germany_30325443-de#page1 zur Verfügung.