12. August 2022  |  
Gastbeitrag

Weiterbildung in der Transformation

Gestörte Lieferketten, horrende Energiepreise – die aktuelle weltpolitische Lage verlangt von Unternehmen Weitsicht in denkbar unsicheren Zeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass in vielen Unternehmen seit Jahren konkrete Strategien zur Bewältigung der digitalen und ökologischen Transformation fehlen. Rückblickend auf die ersten Pandemie-Jahre wird einmal mehr deutlich, dass Einsparungen bei Personal und Weiterbildung als langfristiges Mittel zur Krisenbewältigung nicht taugen. Insbesondere auch angesichts des „leergefegten“ Arbeitsmarktes.

Qualifizierte Beschäftigte sind der entscheidende Wettbewerbsfaktor, heißt es in der Charta für Lernen und Arbeiten in der Industrie 4.0. Um mit dem Personal auch die Innovationskraft im Unternehmen zu halten bzw. auszubauen, braucht es neben einer systematischen Personalplanung und Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs vor allem mehr Beteiligung und moderne Mitbestimmung.

Transformation braucht kulturellen Wandel

In dem Impulspapier „… und was tun Sie? Auswirkungen der Digitalisierung durch Qualifizierung meistern“ widmet die Arbeitsgruppe „Arbeit, Aus- und Weiterbildung“ der Plattform Industrie 4.0 der Sozialpartnerschaft und der Bedeutung von Tarifverträgen beim Thema Aus- und Weiterbildung ein eigenes Kapitel. Das Papier erläutert außerdem anhand von Praxisbeispielen, über welche (digitalen) Kompetenzen die Beschäftigten und ihre Führungskräfte in der deutschen Industrie künftig verfügen müssen und wie diese skills erfolgreich vermittelt werden können.

Dem arbeitsplatzintegrierenden, selbstgesteuerten und lebensphasenorientierten Lernen kommt eine wachsende Bedeutung zu, denn: Lebensbegleitendes Lernen ist der Schlüssel für den erfolgreichen Wandel. In den Unternehmen ist ein Kulturwandel erforderlich, der neben einer neuen Lern- und Fehlerkultur auch ein verändertes Führungsverständnis und mehr Souveränität der Beschäftigten beinhaltet. Es ist Aufgabe der Unternehmensleitungen, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Dringend gesucht: digitalaffine „Green Collar“

Wie Weiterbildung hat sich auch Nachhaltigkeit vom Kostenfaktor zum Wettbewerbsvorteil entwickelt. Damit Unternehmen den Anforderungen des Klima-, Energie- und Ressourcenschutzes entlang der gesamten Wertschöpfungskette nachkommen können, brauchen sie in allen Bereichen Personal, das über „grüne“ Kompetenzen (green skills) verfügt. In Anlehnung an die herkömmliche Unterscheidung zwischen blue collar und white collar worker setzt die AG „Arbeit, Aus- und Weiterbildung“ das Zielbild des green collar für sämtliche Beschäftigte eines nachhaltigen Unternehmens, einschließlich der Führungsetage. Hierbei umfassen die green skills nicht nur verfahrenstechnisches Wissen, das bereits an ausgewählten Hochschulen und in der dualen Ausbildung vermittelt wird. Ebenso wichtig sind das richtige Mindset, der Wille zur Veränderung und ausgeprägte Kommunikations- und Transferkompetenzen. Das vernetzte Denken wird zum Dreh- und Angelpunkt. Im Herbst wird die Arbeitsgruppe ihre Ausarbeitungen zu green skills publizieren.

Die Koalitionspartner setzen auf berufliche Bildung

Weiterbildung als Schlüssel zur fairen Gestaltung der Transformation ist auch Aufgabe der Bundesregierung, die diesem Umstand mit vielen im Koalitionsvertrag angekündigten Instrumenten Rechnung trägt. Obschon oder gerade weil diese zum Teil noch nicht im Detail ausbuchstabiert sind, diskutieren die Akteure der Plattform Industrie 4.0, allen voran die Mitglieder der AG „Arbeit, Aus- und Weiterbildung“, bereits das Für und Wider der angekündigten Reformen. So begrüßenswert einige der bildungspolitischen Vorhaben auch sein mögen, aus gewerkschaftlicher Sicht sind in erster Linie die Arbeitgeber verpflichtet, die Weiterqualifizierung ihrer Beschäftigten sicherzustellen – wie oben beschrieben auch aus Eigeninteresse. Der Staat ist vor allem gefragt, wenn es um die Förderung bestimmter Personengruppen geht, oder aber Unternehmen aufgrund der Transformation nachweislich in Bedrängnis geraten.

Die Attraktivität der Weiterbildung muss wachsen

Weiterbildung muss für die Beschäftigten attraktiv und leistbar sein. Attraktiv insofern, als dass sie Chancen und Perspektiven bietet; leistbar vor allem hinsichtlich der Aspekte Zeit und Geld. In Bezug auf zeitliche Ressourcen sind neben Phasen der Kurzarbeit auch langfristige Freistellungsmöglichkeiten zu diskutieren. Alle Instrumente müssen sich schlussendlich daran messen lassen, ob sie den Lebensunterhalt und den Lebensstandard der Beschäftigten während einer Qualifizierungsmaßnahme sichern können. Schlussendlich brauchen sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte Orientierung durch kompetente Beratung im Angebots- und Förder-“Dschungel“. Hier leistet die AgenturQ in Baden-Württemberg bereits wertvolle Unterstützung.

Julia Görlitz, politische Sekretärin im Berliner Büro der IG Metall und Leiterin der AG „Arbeit, Aus- und Weiterbildung“ der Plattform Industrie 4.0