19. März 2024  |  
Gastbeitrag

Die pädagogische Dimension des Lernraumes

Lehren und Lernen findet gemeinhin in Räumen statt. Im Allgemeinen wird dem Raum selbst und seiner Ausstattung dabei wenig Beachtung geschenkt, doch darf die Wirkung des Raumes auf Lehrende und Lernende nicht unterschätzt werden – der italienische Reformpädagoge Loris Malaguzzi sprach gar vom „Raum als drittem Pädagogen“. Der pädagogischen Dimension des Raumes wurde in Deutschland allerdings bisher wenig Bedeutung geschenkt, Grundrisse im Bildungsbau allgemeinbildender und beruflicher Schulen sehen heute noch genauso aus wie vor 150 Jahren, geprägt von der „Flurschule“ oder „Industrieschule“ des 19. Jahrhunderts. Diese „Flurschulen“ mit einheitlichen Klassenräumen rechts und links eines Flures, ausgerichtet auf lehrkraftzentrierten Frontalunterricht, stammen noch aus der Zeit der Industrialisierung, welche für gleichförmige Tätigkeiten nach uniformen Arbeitskräften verlangte.

Schulsystem des 19. Jahrhunderts

Die Grundlagen der „neuen“ industrialisierten Arbeitswelt beschrieb Frederik W. Taylor im Jahr 1911:

  • Detaillierte Vorgabe der Arbeitsmethode: „One best way“
  • Fixierung von Leistungsort und -zeitpunkt
  • Einwegkommunikation
  • detaillierte Arbeitsaufgaben
  • detaillierte Zielvorgaben
  • ohne erkennbaren Zusammenhang zum Unternehmungsziel
  • externe (Qualitäts-)Kontrolle.

(Frederick W. Taylor: The principles of scientific management, 1911; Quelle: Wikipedia, verändert)

Und so lassen sich auch die Grundlagen der so genannten „Industrieschule“ korrespondierend beschreiben – sollte sie doch auf eben diese Arbeitswelt vorbereiten:

  • Detaillierte Vorgabe des Lösungswegs: „Ostereier-Didaktik“
  • Fixierung von Leistungsort und -zeitpunkt: Stundenplan
  • Einwegkommunikation: Frontalunterricht
  • detaillierte Arbeitsaufgaben
  • detaillierte Zielvorgaben
  • ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Lebenswelt
  • externe (Qualitäts-)Kontrolle: Klausuren, Prüfungen, Leistungsmessung

(der Hinweis auf diese Analogie stammt von Dr. Otto Seydel, Institut für Schulentwicklung, Überlingen)

Erschreckenderweise gilt diese Beschreibung unserer Schulen noch heute, obwohl sich doch unsere Lebens- und Arbeitswelt den letzten 150 Jahren drastisch verändert hat! Heute sollte es in Schulen um die Vermittlung von Zukunftskompetenzen für eine (Arbeits-) Welt gehen, deren berufliche, gesellschaftliche und private Herausforderungen wir noch nicht einmal kennen. Die Vermittlung dieser „21st Century Skills“ verlangt nach wechselnden Unterrichtsverfahren, nach Methodenvielfalt und wechselnden Sozialformen. Inklusion, Neurodiversität und Sprachförderung verlangen zudem noch nach darüber hinaus gehender Differenzierung. Erst in den letzten Jahren wurden Konzepte wie „Lernwerkstätten“ und „Makerspaces“ als Bereich eigener Theorie und Praxis erkannt und grundlegend beforscht, bisher aber vor allem in Schülerforschungszentren, Schülerlaboren oder Science Centers umgesetzt. Hier ist nicht mehr der Klassenverband die bestimmende Sozialform, er löst sich auf zugunsten individualisierter Arbeitsformen und Lernwege, wechselnder (Klein-) Gruppen und selbstorganisiertem Lernen.

Neue Konzepte an allgemeinbildenden Schulen

Einzelne Leuchtturmprojekte allgemeinbildender Schulen haben diese Erfolgsgeschichten übernommen und Klassenverband wie Stundenplan daraufhin gänzlich aufgelöst, sie erproben völlige neue Formen des schulischen Lernens – von „Unterricht“ im klassischen Sinne kann hier gar nicht mehr gesprochen werden. Diese neuen Formen des Lehrens und Lernens verlangen aber auch nach neuen Raumkonzepten und Gebäudegrundrissen. Diese neuen (Lern-) Räume müssen ebenso herausfordernd sein wie Platz für Kooperationen bieten, die Aneignung durch Lernende erlauben, aber auch ordnend im Sinne des pädagogischen Regelwerks wirken. Und natürlich muss die Gestaltung dieser Lernräume neben der sozialen Formation der Lerngruppe auch die spezifischen Interaktionsprozesse der eingesetzten Lehr- und Lernmethoden fördern – erst kommt die pädagogische Vision, dann das daraus abgeleitete und darauf abgestimmte Raumkonzept.

„Lernfabriken“ in der industriellen Aus- und Weiterbildung

Auch in der technischen Aus- und Weiterbildung setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der „Raum als dritter Pädagoge“ eine wichtige Rolle spielt: Raumkonzepte müssen zu pädagogischen wie didaktischen Konzepten passen und diese unterstützen. „Lernfabriken“, entwickelt vor 30 Jahren in den USA, führten erstmals realistische Produktionsumgebungen für die berufliche Aus- und Weiterbildung ein. Die International Academy for Production Engineering (CIRP) und die International Association of Learning Factories (IALF) definieren eine „Lernfabrik” unter anderem durch

  • Ziele, die sich an den Bereichen Weiterbildung, Forschung und/oder Lehre orientieren,
  • Prozesse, die authentisch sind, mehrere Stationen und sowohl technische als auch organisatorische Aspekte umfassen,
  • eine veränderbare Umgebung, die einer realen Wertschöpfungskette entspricht und wandlungsfähig ist,
  • ein didaktisches Konzept, das formelles, informelles und nicht-formelles Lernen vor Ort durch die aktive Beteiligung und eigene Handlungen der Lernenden ermöglicht (Quelle: Tisch et al., The Learning Factory. An annual edition from the network of innovative Learning Factories 1 1, S. 7–12; verändert).

Auch hier sehen wir wieder deutlich den Zusammenhang zwischen pädagogischen und didaktischen Konzepten und Konzepten des Raumes und seiner Ausstattung.

Eine der ersten „Lernfabriken“ in Europa war das 2007 gegründete „Center für industrielle Produktion“ des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der TU Darmstadt. Seit 2014 schult beispielsweise auch die Firma Festo ihre Mitarbeitenden in der „Festo Learning Factory“ in Scharnhausen vor allem auf den Lernfeldern „Industrie 4.0“ und „Lean Production“.

Multifunktionale und flexible Raumkonzepte

Angesichts von zu erwartenden Nutzungsverschiebungen – wer weiß schon heute, welche Nutzung pädagogisch in 20 Jahren verlangt wird? – bietet es sich an, schon im heutigen Bildungsbau nicht mehr in monofunktionalen, sondern in multifunktionalen Räumen zu denken. Diese flexiblen Lernräume, seien es Räume für Einzel- und Gruppenarbeit oder für Instruktions-, Differenzierungs- oder Prüfungssituationen, nicht zuletzt auch Aufenthalts- und Arbeitsräumen für Lehrende und Rückzugsräume für Ruhephasen, verlangen nach neuen Grundrissen und Raumkonzepten. Nicht zuletzt muss die Ausstattung der Lern- und Laborräume die zukünftigen pädagogischen Anforderungen unterstützen und daher möglichst anpassungsfähig an die jeweilige Lernsituation und Sozialform sein: Von der Versorgung mit Technischen Medien wie Gas, Wasser oder Druckluft bis hin zu Tischen und Stühlen, Schränken und Raumtrennern verlangt eine multifunktionale Offenheit des Raumes nach flexiblen Lösungen.

Der „Corporate Makerspace“ als Innovationstreiber

Auch Unternehmen entdecken zunehmend die Vorteile von Makerspaces als Brutstätten für technologische Innovation und unternehmerisches Denken. Die Einführung einer „Innovation Time“ im Unternehmen ist schön und gut, braucht aber auch eine entsprechende, inspirierende Umgebung – eben einen „Innovation Space“. Dabei spielen Raumkonzeption und Ausstattung dieses Corporate Makerspace eine große Rolle, soll die Kreativitätsentwicklung gelingen:  Café-Bereiche mit Sofaecken sind dabei genauso wichtig wie flexible Gruppenarbeitsbereiche oder Werkstattzonen mit Maschinen und Werkzeugen.

Schlüsselfunktionen des Corporate Makerspace sind dabei die Verbesserung der Kommunikationskultur, die Steigerung von Kreativität und Mitarbeitermotivation, eine schnelle Konzeptentwicklung, der Wissenstransfer im Unternehmen und die Identifizierung von sogenannten Intrapreneuren, also unternehmerisch denkenden Mitarbeitenden innerhalb des Unternehmens, für die Personalentwicklung.

Die Effekte eines Corporate Makerspaces können dabei vielfältig sein: Von der Förderung der Kommunikation und Teamentwicklung bis hin zur vollständig ausgestatteten Werkstatt zur schnellen Erstellung von Prototypen, um eine kreative Ideenfindung nahtlos in einen iterativen und kollaborativen Produktentwicklungsprozess zu überführen.

Nicht zuletzt kann ein erfolgreich implementierter Corporate Makerspace die Motivation und Zufriedenheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fördern und so zur Personalentwicklung und Mitarbeiterbindung beitragen, aber auch die Arbeitgebermarke in der externen Kommunikation aufwerten und so bei der Talentakquise hilfreich sein.

Fazit: Ob an allgemeinbildenden oder beruflichen Schulen, in Ausbildungszentren oder in Unternehmen – die Auseinandersetzung mit der pädagogischen Dimension des Lernraumes lohnt sich immer. Raumkonzepte und Raumausstattungen müssen sich dabei dem Primat von Pädagogik und Didaktik unterordnen: Erst kommt die pädagogische Vision, dann das dazu passende Raumkonzept!

Gastbeitrag: Dr. Dr. Dierk Suhr, pädagogischer Leiter der Hohenloher Schuleinrichtungen GmbH & Co. KG