2. März 2022  |  
Dr. Stefan Baron

Gemeinsam Lernen – 10 Facetten und Erkenntnisse aus unserem Barcamp

Es ist jetzt eine Woche her, da haben wir zusammen mit CoConsult und der CoWork Group das zweite Online-Barcamp Betriebliches Lernen gestartet. Thema war „Gemeinsam lernen – leichter zum Erfolg!“. Wir haben nämlich selbst die Erfahrung gemacht, dass es sich oft leichter und mit mehr Freude lernt, wenn man es gemeinsam tut. Klar, es kommt auch darauf an, mit wem und was man lernt und wofür. Im betrieblichen Umfeld geht es oft darum, Handlungskompetenz aufzubauen und da wirkt Gemeinsam Lernen Wunder.

Ursprünglich wollte ich hier „Gemeinsam Lernen“ theoretisch beleuchten. Wo ist der Zusammenhang zu Begriffen wie „soziales Lernen“, „kollaboratives Lernen“, „kooperatives Lernen“ usw.? Zusätzlich wollte ich die Erkenntnisse des Barcamps einbauen. Dafür habe ich mir angeschaut, was sich alles in der Dokumentation auf miro findet. Da wurde mir sofort klar: Das gibt ein viel besseres, bunteres Bild, als jede Theorie.

Zwischen 30 und 40 Teilgebende haben am 23. Februar 2022 eine Unmenge an tollen Informationen, Links, Gedanken und Impulsen zusammengetragen. Aus dieser Fülle greife ich hier einzelne Sätze und Schlagworte aus der Dokumentation auf. Da ich nicht bei jeder Session dabei sein konnte – wer die Wahl hat, hat die Qual! – ergänze ich dazu meine Gedanken rund ums Gemeinsam Lernen. Wer’s eilig hat, findet im Fazit, wo ich die Kernpunkte nochmal zusammenfasse.

Erste Session-Runde im Barcamp Gemeinsam Lernen

„Das natürliche Lernen in der Gruppe wiederfinden“

Natürliches Lernen? Was heißt das überhaupt? Bemüht man Wikipedia, leitet einen die Seite interessanterweise auf die Seite „Selbstgesteuertes Lernen„. Natürliches Lernen ist also selbstgesteuert?! Dazu gehört es, sich selbst Ziele zu setzen, Lernstrategien zu nutzen, Probleme zu überwinden und über den Lernerfolg zu reflektieren. Und tatsächlich, wenn man sich an bisherige Lerngruppen aus Schule, Studium, Ausbildung erinnert: Es hat schon viel mit Selbststeuerung und (Selbst-)Motivation zu tun. Die Gruppen setzen den Rahmen, doch was genau innerhalb des Rahmens passiert und was ich daraus mache, ist mir überlassen. Natürlich muss das auch teilweise mit den anderen Gruppenmitgliedern ausgehandelt werden. Aber gerade die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven ist ja einer der großen Vorteile einer Gruppe.

Formate wie Working Out Loud, lernOS oder momentan „#meinZiel22“ setzen auf genau so eine Struktur, innerhalb derer man sich selbstständig bewegt. Man setzt sich Ziele, definiert wann man wie viel lernt und schätzt selbst ein, wie weit man gekommen ist und was man noch lernen muss/will. Tatsächlich scheint es so, dass Gemeinsam Lernen in Lerngruppen ein Weg dahin ist, das selbstgesteuerte (natürliche?!) Lernen wiederzuentdecken.

„Ohne Spaß geht gar nichts“

Dieser Gedanke aus der zweiten Session knüpft daran direkt an. Wenn ich mein Lernen selbst in die Hand nehme, bin ich intrinsisch motiviert und habe Spaß an der Sache. In der Tat scheint das mehr als eine Binsenweisheit zu sein. Es gibt wissenschaftliche Theorien und Untersuchungen, dass positive Emotionen (insbesondere solche, die uns aktivieren, also nicht unbedingt das Gefühl der Entspannung) lernförderlich wirken. Es ist vorstellbar, dass das Lernen in Gruppen eben diese positiven Emotionen fördert. Man erhält von den anderen Menschen Lob aber auch Hinweise zur Verbesserung. Man erkennt den eigenen Fortschritt in der Gruppe besser und schneller. Das gemeinsame Erkunden eines Themas und das gemeinsame Gehen eines Weges machen mehr Spaß, als sich alleine „durchkämpfen“ zu müssen. Motivationstiefs werden ausgeglichen, wenn andere einem wieder Energie geben. Kurzum: Die Gruppe kann eine Ressource positiver Emotion sein und dadurch das eigene Lernen effektiv fördern.

„Ich bin okay – du bist okay“

Wird’s jetzt esoterisch? Keineswegs. Denn eine Lerngruppe braucht Vertrauen um zu funktionieren. Nur dann können die eben beschriebenen Wirkungen eintreten. Die Grundhaltung ist dabei entscheidend. Schon vor Jahren hat Amy Edmondson das Konzept der psychologischen Sicherheit vorgestellt. Es geht um die Frage, ob man es als sicher einschätzt, in einem Team (einer Gruppe) Risiken einzugehen. Also zum Beispiel Fehler zu machen oder zuzugeben, dass man etwas nicht weiß oder versteht. Beides ist sehr wichtig für das Lernen. Inzwischen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass psychologische Sicherheit einen positiven Effekt auf Teams hat. Auch für das Lernverhalten konnten solche positiven Effekte nachgewiesen werden. Eine Haltung des Respekts, der Offenheit und das Bewusstsein, immer von- und miteinander lernen zu können („Shoshin„), sind nicht esoterisch. Sie sind ein Erfolgsfaktor für das Lernen in Gruppen.

Lernreise für die Personalentwicklung

Wer Gemeinsam Lernen im Betrieb als Erfolgsmodell etablieren will, der sollte selbst damit Erfahrung haben, selbst auf einer Lernreise sein. Aber Moment mal… heißt das jetzt, wir sollen alle Beschäftigten kreuz und quer über den Globus schicken? Am besten ins Silicon Valley? Das kann eine Bedeutung von Lernreise (engl. Learning Journey) sein. Der Begriff hat aber noch (mindestens) zwei andere Bedeutungen. Einerseits bezeichnet er den Weg eines Individuums durch seine Bildungsbiografie. Von der Grundschule in die weiterführende Schule zur Ausbildung und ins Studium. Es wird noch ein MBA draufgesetzt und verschiedene Fortbildungen gemacht.

Andererseits aber – und das ist die Bedeutung, die für uns interessant ist – kann „Lernreise“ auch heißen, dass ein modulares Lernkonzept gebaut wird. Die Lernenden durchlaufen es innerhalb eines festgelegten Zeitraumes. Dabei nutzt man üblicherweise verschiedene Methoden. Es gibt „Live-Events“ und zeitunabhängige Lerninhalte (z. B. Videos). Die einzelnen Lernenden oder eben die Lerngruppen entscheiden (bis zu einem gewissen Grad) selbst, wann sie welchen Schritt gehen und wie lange sie sich mit einzelnen Inhalten beschäftigten. Dabei muss eine Lernreise nicht aus vordefinierten Inhalten bestehen. Eine Lernreise kann man auch (vielleicht sogar besser?) unternehmen, wenn man sich die Inhalte Schritt für Schritt erarbeitet. Damit entsteht dann auch ein direkter Bezug zu den Arbeitsthemen. Personalabteilungen und Betriebsräte sollten – so meine ich – als Vorbild immer wieder selbst auf Lernreisen gehen. So machen Sie hoffentlich auch anderen Lust auf den Antritt einer eigenen Lernreise .

„Starten mit denen, die Lust haben“

Womit wir bei der fünften Session aus der ersten Runde angekommen wären. In der Dokumentation habe ich dort den Schnipsel „Starten mit denen, die Lust haben“ gefunden. Das ist bei vielen Projekten die große Frage: Wann wende ich wie viel Energie auf, um Widerstände zu überwinden und auch noch die größten Skeptiker:innen mitzunehmen?

In der Session war man sich wohl einig, dass man besser die Energie nutzt, die schon da ist. Das kann ich nachvollziehen. Denn wenn diese Menschen mit Energie, mit Spaß und Erfolg lernen, können sie ein Beispiel, ein Leuchtturm, für andere sein. Sie motivieren als „Pioniere“ andere dazu, sich auch (wieder) an das Lernen zu wagen. Aus meiner Sicht muss dafür schon im Schritt davor, in der Konzeption, das Lernangebot so gut wie möglich auf die zukünftigen Nutzer:innen zugeschnitten werden. Dann braucht es im Idealfall nicht mehr allzu viel Überzeugen. Dann findet man schnell viele Menschen, die Lust haben, auf die Lernreise zu gehen – um beim Bild von oben zu bleiben.

Zweite Session-Runde im Barcamp Gemeinsam Lernen

„Wie kann das Wissen über Methoden verfügbar werden?“

Angekommen in der nächsten Session-Runde stellt sich die Frage nach der (Neu-)Erfindung des Rads. Gemeinsam Lernen ist kein Ansatz der erst jetzt entstanden ist. Methoden und Möglichkeiten gibt es viele, teilweise schon lange. Trotzdem sind sie oft nicht besonders bekannt bzw. werden nicht aktiv genutzt. Working Out Loud und lernOS sind oben schon erwähnt worden. Daneben gibt es zum Beispiel die Kollegiale Beratung, Communities of Pracitce, Qualitätszirkel, Lessons Learned oder die Retro(spektive). All das sind definierte Strukturen, die Gemeinsam Lernen als Kerninhalt haben oder es (in)direkt fördern. Sie können von den Beschäftigten selbst organisiert werden.

Wie bringt man diese Methoden ins Bewusstsein der Belegschaft? Wie schafft man es, dass sie selbstständig angewendet werden (können)? Meiner Meinung nach sind wir wieder beim Thema von oben: Die Möglichkeit bieten, sich diejenigen schnappen, die Lust haben, beim Start helfen und auf dem Weg in die eigenständige Lerngruppe begleiten (das heißt auch loslassen!). Dafür braucht es erstmal einiges an Kommunikation. Man könnte auch sagen, man muss die Werbetrommel rühren. Dabei ist es im Übrigen hilfreich, wenn man die Formate nicht als Lern- und Weiterbildungsangebot verkauft, sondern als Möglichkeiten zur Lösung konkreter Probleme.

„DEAL-Stunde (Drop Everything and Learn)“

Wer es gerne griffiger hätte und ein Beispiel gelungener Kommunikation sucht, wird bei der DEAL-Stunde fündig. DEAL, das steht für „Drop Everything And Learn“, deutsch: „Lass alles fallen und lerne“. Eine klasse Idee: Eine Stunde in der Woche (?) ist für das Lernen reserviert. Die Mitarbeitenden dürfen, ja sie sollen sich diese Stunde nehmen, um sich mit Neuem zu beschäftigen. Sie sind entbunden von ihren anderen Pflichten. Da wird das Lernen mehr als ein Lippenbekenntnis. Natürlich vorausgesetzt, die Stunde wird wirklich genutzt. Was das beeinflusst, habe ich bereits an anderer Stelle beschrieben.

Machen Sie sich bewusst, was das auf lange Frist heißt. Das Jahr hat 52 Wochen, 6 Wochen sind Urlaub, bleiben 46. Ziehen wir noch die ein oder andere für Unvorhergesehenes ab, kommen wir bei mindestens 40 Wochen, also 40 Stunden Lernen im Jahr heraus. Eine Woche!! Bei einer Investition von nur einer Stunde pro Arbeitswoche. 1/40, schlappe 2,5%, der wöchentlichen Arbeitszeit sind da Lernzeit (bei einer 35-h-Woche wären es 2,9%). Das ist verhältnismäßig gut investierte Zeit! Vor allem, wenn man bedenkt, dass a) wohl viereinhalb Stunden pro Woche (11-12% der Arbeitszeit) für unproduktive Meetings verloren gehen und b) ein Lernangebot von 40 Stunden gut und gerne zwei- bis dreitausend Euro kosten dürfte.

„digitale Barrierefreiheit“

Apropos Preis von Weiterbildung. Welchen Preis hat die Digitalisierung des Lernens? In einer Session kam ein Thema zur Sprache, dass sonst eher ein Schattendasein führt. Wie zugänglich sind digitale Lernangebote für Menschen, die blind oder taub sind? Wussten Sie, dass es bereits heute eine gültige Verordnung in Deutschland gibt, die regelt, dass öffentliche Einrichtungen Webinhalte so ziemlich jeder Art barrierefrei zur Verfügung stellen müssen? Das schließt zum Beispiel auch die Verwendung leichter Sprache ein. Dass auch das wichtig ist, zeigt uns die Leo-Studie von 2018. Sie kam zum Ergebnis, dass es 6.2 Millionen „gering literalisierte“ Erwachsene in Deutschland gibt. Das sind Menschen, die zwar einzelne Sätze, nicht aber Texte lesen und/oder schreiben können.

Ab Sommer 2022 sind die EU-Länder verpflichtet, weitergehende Verordnungen zu erlassen. Diese sollen ab 2025 gelten und dann auch in Teilen und unter bestimmten Bedingungen Privatunternehmen umfassen. Darin sind mit „soll“-Empfehlungen die Barrierefreiheit von digitalen Medien verschiedenster Art enthalten (im Detail kann das u. a. in den Ziffern 29, 31, 33 der Einleitung sowie in Artikel 2 (1) b) ii), c), d), (2) und (4) der Richtlinie (EU) 2019/882 des europäischen Parlaments und des Rates vom vom 17. April 2019 nachgelesen werden). Langer rede kurzer Sinn: die digitale Barrierefreiheit wird als Anforderung in der EU kommen. Sind Sie bereit dafür?

„mein Teammitglied fängt da an, wertvoll zu sein, wo Google nicht hinkommt ;)“

Nicht bereit war ich für diesen Satz. Ich bin darüber gestolpert und gleichzeitig hat er mein Interesse geweckt. Mein Teammitglied fängt da an, wertvoll zu sein, wo Google nicht hinkommt ;). Da gibt es zwei Lesarten. Nummer 1: Per se ist Google (breiter gefasst Technologie) mehr wert, als meine Mitarbeitenden bzw. Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich die Wahl habe, nutze ich erstmal Technologie. Nur, wenn die mich nicht zum Erfolg führt, wende ich mich an einen Menschen. Heftig. Aber auch nicht so abwegig, wenn wir uns die rasante Entwicklung künstlicher Intelligenz vor Augen führen! Wie bald werden Systeme uns schnellere und genauere Antworten auf sehr spezifische Fragen liefern, als das unsere hochspezialisierten Kolleginnen und Kollegen tun können?

Lesart Nummer 2 knüpft genau da an. Google mag uns Menschen im Bereich der Informationslieferung schon heute den Rang ablaufen. Was aber ist mit Emotionen? Was ist mit Kreativität, mit inspirierendem Austausch und dem Gefühl von Verbundenheit? Mal ehrlich, das kann uns Google, das kann uns Technologie nicht liefern. Und ich glaube (oder hoffe ich es?), das wird sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern.

Und damit schlagen wir den Bogen zur ersten Session zum Thema Gemeinsam Lernen. Finden wir in der Gruppe das natürliche Lernen wieder? Es geht dabei nicht „nur“ darum Wissen aufzubauen und es zum Zeitpunkt X wiederzugeben (worin uns die Maschinen und Algorithmen heute schon überlegen sind). Vielmehr sollen Handlungskompetenzen aufgebaut werden. Zwischenmenschliche, soziale Kompetenzen erworben und die Kreativität jedes und jeder Einzelnen geweckt und gefördert werden. Gemeinsam Lernen ist ja so viel mehr als Wissenserwerb.

Fazit: Gemeinsam Lernen – leichter zum Erfolg!

Eigentlich wäre das schon ein gutes Schlusswort. Aber lassen Sie mich trotzdem nochmal meine Kerngedanken, die ich aus dem Barcamp Gemeinsam Lernen mitnehme, zusammenfassen.

  1. Gemeinsam Lernen heißt selbstgesteuert Lernen. Niemand gibt mir vor, was ich wann zu lernen habe. Ich entscheide selbst in Abstimmung mit den Gruppenmitgliedern.
  2. Gemeinsam Lernen wirkt lernförderlich. Das Lernen von und mit anderen steigert die Lernmotivation und den Lerneffekt. Bedingung ist, dass in der Gruppe psychologische Sicherheit, Vertrauen und Unterstützung vorhanden sind,
  3. Gemeinsam Lernen ist nicht schwer. Wer selbst aktiv werden will oder Gemeinsam Lernen in der Organisation einführen will, muss das Rad nicht neu erfinden. Es gibt schon unzählige, teilweise langjährig erprobte Methoden und Strukturen für das Lernen in Gruppen.
  4. Gemeinsam Lernen braucht Lernkultur. In den Personalabteilungen und Betriebsräten, genauso wie im Unternehmen als Ganzes, muss die Überzeugung herrschen, dass Lernen Mehrwert schafft. Das unterstreicht man zum Beispiel, indem man Lernzeiten definiert und als Vorbild handelt.
  5. Gemeinsam Lernen ist inklusiv. Gemeinsam zu lernen heißt auch, aufeinander zu achten und niemanden zurückzulassen. Ganz besonders gilt das für Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen.
  6. Gemeinsam Lernen erweitert den Horizont. Klar, man lernt ja auch. Aber neben dem, was ich eigentlich lerne, gewinne ich neue Perspektiven und baue soziale Kompetenzen auf und erweitere mein persönliches Netzwerk.
  7. Gemeinsam Lernen macht Spaß. Wer mit anderen lernt, wird sich seiner Erfolge schneller/besser bewusst, kommt leichter über Motivationstiefs hinweg und kann einfach auch mal mit anderen lachen – egal über was.

Das heißt in Summe ganz platt: Gemeinsam Lernen lohnt sich. Wer mit und von anderen lernt, kommt mit Freude leichter zum Erfolg!

Zum Weiterlesen/-schauen